Die Wahrnehmungskinder

Kinder, die in diesem System nicht mehr funktionieren wollen oder können

Autorin: Lubica Winkelmayr
Artikel erschienen im WALNUSSBLATT Ausgabe Februar 2023
Publikation mit freundlicher Genehmigung von WALNUSSBLATT
Image by jcomp on Freepik

Vor einigen Jahren hat diesen Ausdruck eine nette Ergotherapeutin verwendet. Sie hat damit Kinder gemeint, die unter verschiedenen Wahrnehmungsstörungen oder Wahrnehmungsproblemen leiden.

Die Wahrnehmungskinder

Dieses Wort hat mir damals sehr gefallen. Ja, so nenne jetzt auch ich die Kinder, die eine andere Wahrnehmung haben. Nicht nur die, die Defizite in der Wahrnehmung zeigen, sondern auch hochsensible Kinder, deren Wahrnehmung sich in ihrer Intensität von jenen anderen Kindern unterscheidet.
Kinder mit Wahrnehmungsproblemen
Heutzutage haben 15 bis 20 % aller Kinder verschiedene Wahrnehmungsprobleme in unterschiedlichen Ausprägungen. Die Tendenz ist steigend. Es sind Kinder, die in einem oder kombiniert in mehreren Basissinnen (vor allem Gleichgewichtssinn, Tiefenwahrnehmung und Tastsinn) Defizite und Unsicherheiten zeigen. Jedes Wahrnehmungsproblem zeigt sich immer auch im Verhalten des Kindes (im sozialen und emotionalen Leben) und oft in unangepassten Reaktionen. Die Palette der Wahrnehmungsauffälligkeiten ist sehr breit. Es sind hyper- aktive, schlaffe, dyspraktisch auffällige Kinder. Manche haben Lernschwächen wie Legasthenie oder Dyskalkulie. Alle Autisten leiden unter Wahrnehmungsproblemen. Es gibt Kinder, die eine schlechte Körperspannung haben oder ihren eigenen Körper nicht ausreichend spüren und nicht in der Lage sind, ihre Kräfte abzuschätzen und zu dosieren. Kinder, die sich nicht im Raum orientieren können, bestimmte Materialien am Körper nicht ertragen (Bekleidung) oder anfassen können, etc. Manche dieser Kinder regen sich über jede Kleinigkeit auf und bekommen Wutanfälle, sind stur, lehnen alles ab oder sind zurückgezogen.

Die Problematik dabei

Sehr viele der betroffenen Kinder werden nicht erkannt, nicht diagnostiziert, nicht behandelt und schlimmstenfalls „nicht verstanden“. Warum ist das so? Die Eltern werden meist schon im Kindergarten auf verschiedene Auffälligkeiten des Kindes aufmerk- sam gemacht und es werden Therapien empfohlen. Die meisten Eltern wollen die Tatsachen nicht annehmen und nicht daran glauben, dass gerade ihr Kind unter einer Störung leidet. Andere Eltern wiederum haben Angst, dass ihr Kind mit negativ behafteten Diagnosen abgestempelt wird und nicht die gleichen Bildungschancen bekommt wie andere Kinder. Das nächste große Problem ist, dass in diesem Bereich zu wenig Wissen in der Gesellschaft vorhanden ist. Selbst in den pädagogischen Ausbildungen werden diese Themen nur sehr oberflächlich behandelt. Pädagogen und Lehrkräfte selbst können bei weitem nicht alle dieser Kinder erkennen und dadurch auch nicht deren Reaktionen und Verhalten richtig verstehen und einschätzen. Die Probleme kommen spätestens mit Anfang der Schulzeit ans Licht und das Kind leidet immer stärker darunter. Der Selbstwert sinkt. Es kann sich selbst nicht helfen und versteht nicht, warum es anders ist. Lehrer und Eltern sind überfordert und unzufrieden mit dem Verhalten des Kindes. Die Wahrnehmungsprobleme kommen in unterschiedlichsten Formen zum Ausdruck und zeigen sich in verschiedenen Bereichen. Die meisten verhaltensauffälligen Kinder haben ein Wahrnehmungsproblem, das die Handlungen stark beeinflusst. Die Ursache des Problems nur in der Familie und der Erziehung zu suchen, ist in diesen Fällen falsch.

Die Hochsensiblen

Hochsensible Kinder und Jugendliche nehmen im Vergleich zu anderen Gleichaltrigen ihre Umwelt viel deutlicher und intensiver wahr. Ihre Sinneswahrnehmung ist sehr reichhaltig. Sie sehen, hören und spüren viel mehr als die Mehrheit. Diese empathischen, intuitiven, einfühlsamen, kreativen, phantasiereichen, klugen und besonders neugierigen Wesen sind eine sehr große Bereicherung für diese Welt. Die Kunst und der kreative Ausdruck (Musik, Tanz, Theater, Literatur, Malerei usw.) bringt viele Hochsensible in ihre Welt, zwischen die anderen feinfühligen Menschen und in höhere Frequenzen, wo es ihnen gutgeht und sie sich verstanden und geborgen fühlen. Sie können tief nachdenken, hinterfragen die Sinnhaftigkeit vorgegebener Regeln und ihnen ist bewusst, dass sie anders sind. Für ihre Gabe müssen sie jedoch oft einen hohen Preis zahlen. Sie fühlen sich von der Umgebung nicht verstanden. Gerne ziehen sie sich in ihre eigene Welt zurück und neigen zur Introvertiertheit. Sie fühlen sich in der materiellen Welt, der oberflächlichen Gesellschaft, fremd. Die Reizüberflutung kann sie schnell erschöpfen und führt dazu, dass sie sich in der Schule leicht ablenken lassen. Die Unruhe und Negativität, die sie von der Umgebung ansaugen, werden zu einer großen Belastung. Dazu kommt, dass ihr Perfektionismus zu noch mehr Zeitdruck und Stress führt. Wir sprechen heute von ca. 20 % der Kinder und Jugendlichen, die hochsensibel sind. Hochbegabte Kinder sind immer hochsensibel und es kommt nicht selten vor, dass solch ein Kind unter einer Wahrnehmungsstörung leidet.

Das alte Schulsystem

Das System möchte „Normkinder“ haben. Kinder, die leise in der Schule sitzen, brav sind und den schulischen Anforderungen entsprechen. Kinder, die emotional stabil und sozial angepasst sind, die nicht tiefer nachdenken und das System nicht hinterfragen. Der Mensch soll doch nach vorgegebenen Schemen im Leben funktionieren, nicht eigenständig denken müssen und einfach tun, was verlangt wird. Wir haben immer mehr Kinder, die einfach anders sind und die den Vorstellungen des „Normkindes“ nicht mehr entsprechen. Das Schulsystem ist veraltet. Sehr viele Kinder und Jugendliche sind in den Schulen nicht glücklich. Sie lernen viele Inhalte, die sie bald vergessen oder im Leben nie anwenden werden. Sehr viel Druck, Frustration und vor allem Stress stehen hinter den negativen Emotionen, die mit der Schule verbunden sind. Benotungen als Motivation, oder Druckmittel, die auf Angst basieren, sind kein wirklicher Antrieb. Die Motivation muss vom Kind kommen, aus seinem Inneren. Alle Kinder brauchen Erfolgserlebnisse und positive Verstärkung, damit sie die Freude am Lernen behalten. Wenn die Mühe mit durchschnittlichen oder schlechten Noten „belohnt“ wird, wird das Lernen als sinnlos empfunden und mit negativen Emotionen – bis ins Erwachsenenalter hinein – verbunden. So entsteht das Gefühl, nicht gut genug zu sein.

Die Zeit zur Veränderung ist da

Jedes Kind hat seine Aufgaben und Berufungen für das eigene Leben. Es spürt von klein an, in welche Richtung es gezogen wird. Nach seinen Interessen, Neigungen, Talenten und Begabungen können wir uns orientieren. Ein Kind, das sich langfristig und bis ins Detail für Autos interessiert, kann einmal ein guter und leidenschaftlicher Automechaniker, Autoverkäufer oder Autodesigner sein. Ein Kind, das sehr gerne rechnet und sich intensiv mit Mathematik auseinandersetzt, wird vielleicht einmal ein großer Mathematiker oder Programmierer. Das Interesse, die Freude und Leidenschaft sind die Voraussetzungen für ein gelungenes Berufsleben – und nicht die Noten in der Schule. Es ist nicht notwendig, dass jedes Kind alle Schmetterlingsarten erlernt oder perfekt die ganze Weltgeschichte kennt. Wie viele von uns brauchten die höhere Mathematik, die wir alle einmal gelernt haben, im Leben und im Beruf? War der Stress das wert?

Die Schulen der Zukunft

Alle Schulformen, in denen mehr Personal vorhanden ist und den Kindern damit ein individuelleres Arbeiten ermöglichen, sind schon der erste Schritt in die richtige Richtung. Wir kennen schon einige Schulmodele, die gut funktionieren und die eine gute Inspiration für die Änderung des Schulsystems darstellen. Dazu zählen die Summerhillschule, Montessori- und Waldorfschulen, sowie viele andere private und reformpädagogische Bildungseinrichtungen. Kinder sind so unterschiedlich, dass die gewohnte Massenabfertigung in den Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen dem nicht standhält. Alle Kinder, besonders aber die Wahrnehmungskinder, brauchen einen individuellen Zugang. Sie können in der Masse, unter einheitlicher Führung, nicht gut lernen. Lehrer und Pädagogen sind oft überlastet und überfordert, der Personalmangel im pädagogischen Bereich tut sein Übriges. Es ist Zeit für Veränderung. Kinder sollen eine positive Beziehung zum Lernen entwickeln. Sie sollen gerne und nach ihren Interessen und Entscheidungen, in ihrem eigenen Tempo, ohne Druck und Stress, lernen. Sie sollen ihre Kindheit und Jugend genießen und glücklich sein. Ebenso dürfen die wunderbaren Lehrkräfte Freude und Spaß an ihrer Arbeit haben und ihr Wissen in entspannter Atmosphäre den interessierten Kindern – ohne Noten und Prüfungsangst – vermitteln. Jedes Kind soll und darf so gut sein, wie es ist. Die Schulen der Zukunft werden dies den Kindern ermöglichen und eigenständiges Denken beibringen, die geistigen Gesetze des Lebens lehren, den Raum für tiefgreifende Themen anbieten und sich an den wichtigen Werten orientieren.


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